Auszug aus dem vierten Märchen: „Briefe vom Drachen“

Drei gewaltige Schläge ließen das Schlosstor erzittern. „Aufmachen! Auf der Stelle!“, schrie der Zwerg, vorsorglich wütend. Lilandra hatte seit Tagen auf den nächsten Brief des Drachen gewartet und war die Erste an der Pforte.
„Kommen Sie doch herein, mein lieber Herr!“, sagte sie ausnehmend zuvorkommend und liebenswürdig. Lilandra wusste, wie man einen Zwerg zu nehmen hatte. Der war so verdutzt, dass er artig Folge leistete und eintrat. „Hey, was soll das?“, murmelte er verwirrt. „Ich bin vielleicht ein Zwerg, aber noch lange nicht …“ Er machte eine Pause und rief dann: „Aber ja doch, ich bin kleinwüchsig und werde oft übersehen. Um so mehr freut es mich, werte Prinzessin, dass Sie …“ Wieder hielt er inne. „Kurz gesagt, hier ist ein Brief für Sie, und ich würde Ihnen jederzeit und gern wieder einen bringen oder womöglich auch, notfalls, einen schreiben!“ An dieser Stelle seiner Ansprache war der Zwerg ganz und gar durcheinander und verstummte.
Lilandra war auch eine hervorragende Gastgeberin. Erst nahm sie dem Zwerg Rucksack und Mantel ab, dann schob sie ihm einen Stuhl unter – das heißt, sie hob ihn auf einen Stuhl – und servierte ihm einen Wurzeltee, so heiß und würzig, wie Zwerge ihn mögen.
Erst dann nahm sie den Brief entgegen, den der Zwerg die ganze Zeit verlegen mit beiden Händen festgehalten und hin und her gedreht hatte. Athello, der König und die Königin waren inzwischen hinzugekommen.
Lilandra riss den Brief des Drachen auf und las:

An
Prinzessin Lilandra Dritter Drachenmond 16
Schloss im Drachenjahr 17394

Liebe Lilandra,

ich schreibe diesen Brief in aller Heimlichkeit. Denn ich werde hier gegen meinen Willen gefangen gehalten. Du musst mir helfen. Bitte! Albrachant hat mich nach dem Fest der Drachen in Artus’ Labyrinth verschleppt. Er ist ja viel größer und bedrohlicher als ich, so dass ich mich nicht wehren konnte.
Ich weiß nicht genau, warum er mich hier festhält, aber ich vermute, er will sich vielleicht mit mir die Einsamkeit vertreiben. Er lebt schon seit Jahrhunderten hier und braucht wohl ein wenig Gesellschaft. Aus Gesprächen mit anderen Drachen beim Fest, die ich belauschte, erfuhr ich, dass er es ziemlich satt hat, in Artus’ Labyrinth zu hausen. Er will wieder frei sein, fortfliegen und vielleicht ein Drachenweibchen finden. Aber Artus würde ihn nie gehen lassen. Schon die Erlaubnis, das Drachenfest zu besuchen, war für ihn außerordentlich schwer zu bekommen. Ich fürchte, Albrachants Plan ist, mich zu seinem Nachfolger zu machen. Nur ist mir rätselhaft, wie ich das tun soll. Du kennst mich, Lilandra, ich kann nicht mal einen richtigen Feuerstrahl speien. Und außerdem stinkt er fürchterlich. Ich will nicht in dieser finsteren Höhle mit ihm hausen, und auch nicht ohne ihn. Ich will zurück zu dir ins Schloss. Bitte, Lilandra, befreie mich!
Das Drachenfest auf Smauchs Burg war fantastisch. Du glaubst nicht, wie viele Drachen dort waren. Es war ein Rauch und Feuer wie bei einem Vulkanausbruch. Auch einige Dinosaurier waren gekommen, die ja mit uns Drachen entfernt verwandt sind. Sie sind etwas einfältig, aber zum Teil von beeindruckender Größe. Einige von den kleineren können sogar fliegen wie wir.
Ich gebe den Brief dem Zwerg mit, der hier regelmäßig vorbeikommt, um die Post zu holen. Ich hoffe, weder Artus noch Albrachant fangen den Brief ab.

Heißer, verzweifelter Gruß!
Drache

Als Lilandra zu Ende gelesen hatte, waren alle erschüttert und besorgt. Ihnen tat der Drache leid, aber natürlich waren der König und die Königin vor allem um Lilandra in Sorge. Einfühlsam sagte der König: „Auf keinen Fall! Du bleibst hier! Punkt. Denn was der König sagt, wird gemacht!“
Die Königin ergänzte: „Papa hat Recht, Lilandra. Was dem Drachen passiert ist, ist schlimm, aber schlimmer noch wäre es, wenn dir etwas passierte.“
Lilandra sagte zu Athello: „Mach das Tor auf, Bruder.“ Und Athello rannte zur Pforte. Den Zwerg fragte sie: „Wie lange brauchst du bis Camelot?“
Der Zwerg erschrak, als er so plötzlich angesprochen wurde. Er hatte sich die ganze Zeit schon unbehaglich gefühlt, aber nicht gewagt, sich zu rühren. Jetzt hüpfte er vom Stuhl und sagte: „Zwei Tage, werte Prinzessin. Oder anderthalb, wenn ich mich sehr beeile.“
Der König erhob sich zu seiner vollen, stattlichen Größe und sprach mit majestätischer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Ich habe Nein gesagt und Nein gemeint. Ich verbiete es per Eildekret.“ Und er stellte sich breitbeinig in die Tür, denn dies war sein letztes Wort.
Statt einer Antwort warf Lilandra dem Zwerg seinen Mantel zu, sprang in seinen Rucksack und rief: „Los geht’s!“ Darauf schien der Zwerg nur gewartet zu haben. Er warf sich den Mantel um (ohne ihn zuzuknöpfen), setzte den Rucksack auf, stieß einen schrillen Wutschrei aus und rannte mitten durch des Königs Beine nach draußen. Fassungslos drehte sich der König um und sah der Staubwolke hinterher, die Richtung Horizont raste. Einen wütenden Zwerg kann man nicht aufhalten.