Drei gewaltige Schläge ließen das Schlosstor erzittern. „Aufmachen! Auf der Stelle!“, schrie der Zwerg, vorsorglich wütend.
Lilandra hatte seit Tagen auf den nächsten Brief des Drachen gewartet und war die Erste an der Pforte.
„Kommen Sie doch herein, mein lieber Herr!“, sagte sie ausnehmend
zuvorkommend und liebenswürdig. Lilandra wusste, wie man einen Zwerg zu
nehmen hatte. Der war so verdutzt, dass er artig Folge leistete und
eintrat. „Hey, was soll das?“, murmelte er verwirrt. „Ich bin
vielleicht ein Zwerg, aber noch lange nicht …“ Er machte eine Pause und
rief dann: „Aber ja doch, ich bin kleinwüchsig und werde oft übersehen.
Um so mehr freut es mich, werte Prinzessin, dass Sie …“ Wieder hielt er
inne. „Kurz gesagt, hier ist ein Brief für Sie, und ich würde Ihnen
jederzeit und gern wieder einen bringen oder womöglich auch, notfalls,
einen schreiben!“ An dieser Stelle seiner Ansprache war der Zwerg ganz
und gar durcheinander und verstummte.
Lilandra war auch eine hervorragende Gastgeberin. Erst nahm
sie dem Zwerg Rucksack und Mantel ab, dann schob sie ihm einen Stuhl
unter – das heißt, sie hob ihn auf einen Stuhl – und servierte ihm
einen Wurzeltee, so heiß und würzig, wie Zwerge ihn mögen.
Erst dann nahm sie den Brief entgegen, den der Zwerg die ganze Zeit verlegen mit beiden Händen festgehalten und hin und her
gedreht hatte. Athello, der König und die Königin waren inzwischen hinzugekommen.
Lilandra riss den Brief des Drachen auf und las:
An
Prinzessin Lilandra |
Dritter Drachenmond 16 |
Schloss |
im Drachenjahr 17394 |
Liebe Lilandra,
ich schreibe diesen Brief in aller Heimlichkeit. Denn ich werde hier
gegen meinen Willen gefangen gehalten. Du musst mir helfen. Bitte!
Albrachant hat mich nach dem Fest der Drachen in Artus’ Labyrinth
verschleppt. Er ist ja viel größer und bedrohlicher als ich, so dass
ich mich nicht wehren konnte.
Ich weiß nicht genau, warum er
mich hier festhält, aber ich vermute, er will sich vielleicht mit mir
die Einsamkeit vertreiben. Er lebt schon seit Jahrhunderten hier und
braucht wohl ein wenig Gesellschaft. Aus Gesprächen mit anderen Drachen
beim Fest, die ich belauschte, erfuhr ich, dass er es ziemlich satt
hat, in Artus’ Labyrinth zu hausen. Er will wieder frei sein,
fortfliegen und vielleicht ein Drachenweibchen finden. Aber Artus würde
ihn nie gehen lassen. Schon die Erlaubnis, das Drachenfest zu besuchen,
war für ihn außerordentlich schwer zu bekommen. Ich fürchte,
Albrachants Plan ist, mich zu seinem Nachfolger zu machen. Nur ist mir
rätselhaft, wie ich das tun soll. Du kennst mich, Lilandra, ich kann
nicht mal einen richtigen Feuerstrahl speien. Und außerdem stinkt er
fürchterlich. Ich will nicht in dieser finsteren Höhle mit ihm hausen,
und auch nicht ohne ihn. Ich will zurück zu dir ins Schloss. Bitte,
Lilandra, befreie mich!
Das Drachenfest auf Smauchs Burg war fantastisch. Du glaubst nicht, wie
viele Drachen dort waren. Es war ein Rauch und Feuer wie bei einem
Vulkanausbruch. Auch einige Dinosaurier waren gekommen, die ja mit uns
Drachen entfernt verwandt sind. Sie sind etwas einfältig, aber zum Teil
von beeindruckender Größe. Einige von den kleineren können sogar
fliegen wie wir.
Ich gebe den Brief dem Zwerg mit, der hier regelmäßig vorbeikommt, um
die Post zu holen. Ich hoffe, weder Artus noch Albrachant fangen den
Brief ab.
Heißer, verzweifelter Gruß! |
Drache |
Als Lilandra zu Ende gelesen hatte, waren alle erschüttert und besorgt.
Ihnen tat der Drache leid, aber natürlich waren der König und die
Königin vor allem um Lilandra in Sorge. Einfühlsam sagte der König:
„Auf keinen Fall! Du bleibst hier! Punkt. Denn was der König sagt, wird
gemacht!“
Die Königin ergänzte: „Papa hat Recht, Lilandra. Was
dem Drachen passiert ist, ist schlimm, aber schlimmer noch wäre es,
wenn dir etwas passierte.“
Lilandra sagte zu Athello: „Mach das Tor auf,
Bruder.“ Und Athello rannte zur Pforte. Den Zwerg fragte sie: „Wie
lange brauchst du bis Camelot?“
Der Zwerg erschrak, als er so plötzlich angesprochen
wurde. Er hatte sich die ganze Zeit schon unbehaglich gefühlt, aber
nicht gewagt, sich zu rühren. Jetzt hüpfte er vom Stuhl und sagte:
„Zwei Tage, werte Prinzessin. Oder anderthalb, wenn ich mich sehr
beeile.“
Der König erhob sich zu seiner vollen, stattlichen Größe und sprach mit
majestätischer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Ich habe Nein
gesagt und Nein gemeint. Ich verbiete es per Eildekret.“ Und er stellte
sich breitbeinig in die Tür, denn dies war sein letztes Wort.
Statt einer Antwort warf Lilandra dem Zwerg seinen Mantel zu, sprang in
seinen Rucksack und rief: „Los geht’s!“ Darauf schien der Zwerg nur
gewartet zu haben. Er warf sich den Mantel um (ohne ihn zuzuknöpfen),
setzte den Rucksack auf, stieß einen schrillen Wutschrei aus und rannte
mitten durch des Königs Beine nach draußen. Fassungslos drehte sich der
König um und sah der Staubwolke hinterher, die Richtung Horizont raste.
Einen wütenden Zwerg kann man nicht aufhalten.